D.W. Sabean: Kinship Practices and Incest Discourses

Cover
Titel
A Delicate Choreography. Kinship Practices and Incest Discourses in the West since the Renaissance


Autor(en)
Sabean, David W.
Erschienen
Anzahl Seiten
1.068 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jon Mathieu, Historisches Seminar, Universität Luzern

Der zweite Band der grossen Neckarhausen-Monografie von David Warren Sabean war 1998 eine Art Gründungsakt einer neuen Kinship History. Der US-amerikanische Spezialist für europäische Geschichte entwickelte darin am Beispiel dieses württembergischen Orts eine Methode, Kontinuität und Wandel von Verwandtschaftsbeziehungen systematisch zu erfassen und zu analysieren.1 Das Resultat ist in der Forschung breit rezipiert worden.

In einem einleitenden Kapitel befasste sich Sabean damals anhand von frühneuzeitlichen Kirchenordnungen kurz mit Inzest und Allianzbildung. Diese Ordnungen enthielten eine Vielzahl von Heiratsverboten und halfen die dokumentierten ehelichen Verbindungen zu erklären. In der vorliegenden, 2023 erschienenen Studie über Verwandtschaftspraktiken und Inzestdiskurse seit der Renaissance nimmt der Autor dieses Thema auf, gibt ihm eine andere Wendung und behandelt mit der neuen Perspektive auf sehr ausführliche Weise vier grosse westliche Länder (Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Vereinigte Staaten) vom 16./17. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Das allgemeine Argument wird so formuliert: "Incest fears and formal marriage prohibitions can offer starting points for understanding who counts as a relative or who counts as what kind of a relative in any particular society. And they can also tell us a great deal about how families, households, clans, and kindreds can set up boundaries and cast new ties from generation to generation. If incest ideas play a role in shaping kinship, kinship structures and practices, in turn, give meaning and point to what is considered forbidden, edgy, or scandalous. Incest fears and kinship practices thus act reciprocally in a field that is continuously remapped and re-explored." (S. 207)

Grundlegend ist ferner die empirische Beobachtung, dass in bestimmten Perioden bestimmte Zweierbeziehungen im Zentrum des Inzestdiskurses standen. Sabean organisiert seine Untersuchung rund um diese auffälligen Dyaden und unterscheidet fünf Phasen:
1. Schwager und Schwägerin, vor allem Schwester der verstorbenen Frau (17. Jahrhundert)
2. Bruder und Schwester (Jahrzehnte um 1800)
3. Mutter und Sohn (Jahrzehnte um 1900)
4. Vater und Tochter (1970er- bis 1990er-Jahre)
5. Erneut Bruder und Schwester (seit den 1990er-Jahren).

Neben diesen Dyaden spielten in allen Phasen auch andere Beziehungen eine Rolle. Der Grad der Fokussierung auf ein bestimmtes Zweigespann variierte. Von Phase zu Phase waren die Inzestdiskurse auch von anderen Disziplinen mit je spezifischen Gattungen bestimmt, von theologischen und rechtlichen Texten über fiktionale Literatur und populäre Wissenschaft bis zur Gesellschaftskritik. Das ist ein Grund, dass die Phasen einen "opaken" Charakter haben und wenig miteinander korrespondieren, wie Sabean schreibt (S. 27, 988). Doch gewisse Vorstellungen konnten sich für längere Zeit halten. In ausgeprägter Weise ist dies bei der "Blut"-Metapher der Fall, die im Übergang zur Neuzeit zur Beschreibung von Verwandschaft aufkam (vorher war das biblische "Fleisch" die Hauptmetapher). Im 17. Jahrhundert galt meist sogar die Schwägerschaft als Blutsverwandtschaft, was besonders deutlich macht, dass es sich um eine kulturell-soziale Idee handelte. Später verlor das "Blut" an Bedeutung, blieb jedoch ein gängiges Sprachbild, obwohl seit dem späten 20. Jahrhundert die Vorstellung von "genetischer" Verwandtschaft umsichgriff, die sich auch testmässig ermitteln liess.

Auf der strukturellen Seite der Verwandschaft, welche diese diskursive Seite mitbestimmte, umreisst der Autor ebenfalls eine Folge verschiedener Phasen: Formierung von Manneslinien (16./17. Jahrhundert), Übergang von exogamen zu tendenziell endogamen Heiratsformen (18./19. Jahrhundert), Matrifokalität in der bürgerlichen Familie (vor/nach 1900), abrupter Rückgang der Endogamie und Dethematisierung der klassischen Verwandtschaft (seit dem Ersten Weltkrieg). Für das 20. Jahrhundert bietet das Werk auch eine Reihe von quantitativen Daten zu den familienbezogenen demografischen Trends (S. 686–706, 735–750).

Sabeans historisch nuancierte Analyse richtet sich direkt gegen evolutionäre Biologen, Psychologinnen und Verhaltensforschende, welche Inzest als angeborenes, im Laufe der Evolution durch natürliche Selektion entstandenes Meidungsverhalten deuten. Diese biologische Version kam erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf und war oft mit der Vorstellung verbunden, dass endogame Heiraten zur Degeneration führen. Diese wurde an allen möglichen "krankhaften" Erscheinungen festgemacht. In einem langen "Intermezzo" folgt der Autor dieser Forschungsgeschichte und zeigt im Detail, wie spekulativ und interessengeleitet solche Behauptungen waren und geblieben sind. Sie widersprechen nicht zuletzt der Tatsache, dass Heiraten zwischen Cousins und Cousinen in einem erheblichen Teil der Weltbevölkerung seit Langem gängig sind (S. 557–660).

Mit seiner Delicate Choreography macht Sabean einen mutigen Schritt. Über die ersten beiden Dyaden (Schwägerschaft im 17. Jahrhundert, Geschwister um 1800) hat er seit den 1990er-Jahren vielfach publiziert, und sie erscheinen in nuce auch in der Neckarhausen-Monografie. Ganz neu ans Licht der wissenschaftlichen Öffentlichkeit tritt er dagegen mit den drei letzten Dyaden (Mutter/Sohn um 1900, Vater/Tochter in den 1970er- bis 1990er-Jahren, Geschwister seit den 1990er-Jahren). Sie sind dem Meinungsstreit auch deshalb stärker ausgesetzt, weil sie näher bis ganz nah an unserer Gegenwart liegen. Man kann annehmen, dass die von der feministischen Familienkritik und der expandierenen Psychotherapie geprägte Vater/Tochter-Phase auf besonderes Echo stossen wird. Damals erschien Inzest als Missbrauch und Gewalt eines älteren Mannes an einer unschuldigen, mitunter sehr jungen Frau. Den Auftakt machte 1971 eine Rede vor der "Radical Feminist Conference" in New York, die das zunehmende Gefühl einer Familienpathologie auf den Punkt brachte und den Vater als realen und potentiellen Haupttäter ortete (S. 828). Das ist eine Konstellation, die mit der MeToo-Bewegung seit 2017 wieder an Aktualität und Plausibiltät gewonnen haben dürfte.

In meinen Augen ist Sabeans Grundthese bestechend und überaus produktiv. Verwandtschaft wird damit auf neue Weise historisiert und für weitere Forschungsfelder anschlussfähig gemacht. Das zeigt sich schon an den reichhaltigen Quellen und Texten, die in dieser Untersuchung zutage gefördert und zusammengestellt werden. Wer hätte gedacht, dass hochartifizielle theologische Traktate des 17. Jahrhundert über die Unbefleckte Empfängnis für dieses Thema hinzugezogen werden können? Was hat die Analogie zwischen Eucharistie und Sexualität, die im Kopf eines Hofpredigers von Ludwig XIV. Gestalt annahm, mit kinship boundaries zu tun? (S. 176–190).

Über die Durchführung der Forschungsidee könnte man in einigen Abschnitten diskutieren. So fällt auf, dass die Ebene des Haushalts bei den Phasen 1 bis 3 zugunsten von rein verwandtschaftlichen Erklärungen (zu) stark in den Hintergrund tritt. Im Epilog stellt Sabean jedoch klar, dass die Kohabitation für die Inzestproblematik durchgängig eine bedeutende Rolle spielte (S. 979–988). Diese argumentativen Schwankungen haben auch mit der Ausführlichkeit der Studie zu tun. Sie ist so umfangreich geworden, dass die gebundene Form in drei Teilen ausgeliefert wird. Sabean hat etwa dreissig Jahre daran gearbeitet. Dies dürfte zu ihrem mosaikartigen Charakter beigetragen haben, der durch das epigrafische Format – praktisch vor jedem Kapitel stehen ein Motto oder mehrere – noch unterstrichen wird. Man kann das bewerten, wie man will. Es hat auch (mikrohistorische) Vorteile. Zur gediegenen Ausstattung der drei Bände tragen die vielen interessanten und sorgfältig kommentierten Abbildungen bei.

Der Haupttitel der Studie nimmt übrigens Bezug auf die "delicate new choreography", welche die Familien im 19. Jahrhundert einstudieren mussten, um den zeitgemässen Stilvorgaben gerecht zu werden (S. 385). Man kann ihn auch auf die Untersuchung selbst beziehen. Tatsächlich tanzen auf diesen tausend Seiten Scharen von Frauen und Männern vorbei, deren Arbeiten präsentiert werden, manchmal in längeren Sequenzen, manchmal kürzer, aber meistens in einer warmen Beleuchtung. Das gehört zu den Stärken von Sabean. Er führt eine weit verzweigte Truppe zusammen und formt mit ihr ein Gesamtkunstwerk.

Anmerkung:
1 David Warren Sabean, Kinship in Neckarhausen, 1700–1870, Cambridge 1998.

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